Für Sie zusammengefasst:
Zur Schweizer Frauengeschichte gibt es noch viel zu erforschen. Das Projekt „Ein gemeinsamer Raum – Unerzählte Schweizer Frauengeschichte(n)“ leistet einen wichtigen Beitrag, um Wissenslücken in der Geschichtsschreibung zu schliessen und neue Fragen zu stellen. Im Interview geben Fabienne Amlinger und Corinne Rufli, zwei der vier beteiligten Historikerinnen, Einblick in ihre Forschung und erzählen von ihrer Arbeit, ihren Erkenntnissen und weshalb ihre Forschung für die Gesellschaft wertvoll ist.
Der Platz von Frauen in der Geschichte
Beim Durchblättern von Schweizer Geschichtsbüchern fragen sich die Leser:innen nicht selten, wo eigentlich die Frauen waren, während scheinbar fast ausschliesslich Männer Geschichte machten. Bis heute werden Frauen nur marginal in die Geschichte eingeschrieben, ihnen kommt noch immer nicht der Platz zu, der ihnen zusteht. Das Forschungsprojekt „Unerzählte Schweizer Frauengeschichte(n)“ widmet sich diesen Wissenslücken. In vier Teilprojekten erforschen vier Historikerinnen bisher unbekanntes Wissen zur Schweizer Frauengeschichte ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Projekt beleuchtet das Leben von frauenliebenden Frauen vor der Entstehung der Lesbenbewegung der 1970er- Jahre, Aktivistinnen der Neuen Frauenbewegung und ihr Engagement für Frauenrechts-, Bildungs- und Gleichstellungsarbeit sowie die frühen Politikerinnen im Bundeshaus. Der gemeinsame Nenner der Teilprojekte ist der Raum. Untersucht wird, wie gemeinsame Räume, beispielsweise Frauenzentren, entstanden sind oder wie sich Frauen Räume aneigneten, die ursprünglich von und für Männer geschaffen wurden, wie das Bundeshaus, oder was es bedeutete, kaum Raum zu haben, wie lesbisch liebende Frauen in den 1950er/1960er-Jahren. Die Arbeit der Forscherinnen leistet einen wichtigen Beitrag zur allgemeinen Geschichte, zur Politikgeschichte und zur Geschlechtergeschichte der Schweiz.
Um mehr über das Forschungsprojekt zu erfahren, treffe ich zwei Beteiligte des Forschungsprojekts für ein Interview: Corinne Rufli ist Doktorandin und erforscht die Geschichte von frauenliebenden Frauen im 20. Jahrhundert. Ihre Ergebnisse wird sie in ihrer Dissertation veröffentlichen. Fabienne Amlinger, Postdoktorandin, schreibt einen Essayband zu den frühen Politikerinnen in der Schweiz. Die beiden geben mir Auskunft zu ihren eigenen Forschungen sowie zum gesamten Forschungsprojekt.
Interview mit Corinne Rufli und Dr. Fabienne Amlinger
UniBE Foundation: Wie ist die Idee für das Projekt entstanden?
Corinne Rufli: Wir Doktorandinnen haben auf unterschiedliche Art und Weise bereits seit Jahren Frauenforschung gemacht und uns dann gefragt, wie wir unsere Arbeit weiterverfolgen könnten. So kamen wir mit Prof. Patricia Purtschert vom Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) ins Gespräch. Daraus entstand die Idee für dieses Projekt. Wir möchten unerzählte Frauengeschichten in der Schweiz sichtbar machen.
Fabienne Amlinger: Ich kann drei Punkte besonders herausstreichen, die uns motivierten, das Projekt durchzuführen. Erstens die Notwendigkeit: Alle Themen, die das Projekt behandelt, sind trotz ihrer gesellschaftlichen und politischen Relevanz noch wenig erforscht oder gar unerforscht. Zweitens die Dringlichkeit: In allen vier Teilprojekten führen wir Interviews mit alten Frauen. Das Projekt steht also unter Zeitdruck, weil die Stimmen der von uns befragten Zeitzeuginnen zunehmen verklingen. Und drittens arbeiten wir alle bereits lange und mit grosser Freude auf dem Gebiet und wissen, welches Wissen es zu generieren gilt.
Für eure Forschung verwendet ihr Oral History als Methode. Das bedeutet, ihr stützt die Forschung auf die mündlich überlieferte Geschichte und führt dazu Interviews mit Frauen zu ihrem persönlichen Lebensweg und ihren Erinnerungen. Was sind die Vorteile der Methode?
FA: Oral History hat viele Vorteile. Die Methode kann neue Erkenntnisse und Einsichten generieren, die in schriftlichen Quellen nicht zu finden sind. Dank Oral History kann viel Hintergrundwissen zu schriftlichen Quellen in Erfahrung gebracht werden oder sie kann sogar als Korrektiv zu diesen dienen. Ausserdem können wir mit unseren «Quellen» in einen Dialog treten, was mit schriftlichem, visuellem oder Audio-Material nicht möglich ist.
CR: Die Gespräche mit den Frauen sind meine Hauptquellen. Denn lesbische Spuren in Archiven sind rar. Oft waren es die Frauen oder ihre Nachkommen selbst, die Nachlässe bewusst zerstörten oder verfälschten, aus Angst oder Scham, dass ihre «Lebensweise», die Weise, wie sie fühlten und lebten, bekannt würde. Dennoch habe ich in den Archiven mehr gefunden als gedacht. Durch meine Forschungserfahrung und die Projektlaufzeit von vier Jahren hatte ich wichtige Ressourcen zur Verfügung.
Worum geht es in euren eigenen Projekten und was verbindet die einzelnen Projekte?
FA: Seit meiner Dissertation forsche ich aus einer geschlechtergeschichtlichen Perspektive zur institutionalisierten Politik auf eidgenössischer Ebene. Zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass kaum Forschung zu den Politikerinnen im Bundeshaus existiert. Dieser Befund führte mich zu meinem jetzigen Projekt, in dem die ersten und frühen Bundespolitikerinnen im Zentrum stehen. Die Fragestellung meiner Forschung reiht sich in das Konzept des Gesamtprojekts ein, das auf Fragen rund um Räume fokussiert. Konkret untersuche ich, wie sich die Politikerinnen das Bundeshaus als Raum angeeignet haben, zu dem ihnen bis 1971 der Zugang versperrt war.
CR: Der Raum ist ein verbindendes Element unseres Projekts. Ich spreche mit lesbisch liebenden Frauen über 80 über ihr Leben. Dabei schaue ich mit lesbischer und queerer Perspektive auf ihre Geschichten. In meiner Forschung ist das Fehlen von Räumen ein zentraler Punkt. Wo und wie haben sich die Frauen kennengelernt, sich ausgetauscht und miteinander gelebt? Ich frage nach Möglichkeitsräumen für homosexuelles Begehren, nach Vorbildern in der Öffentlichkeit, nach den Konsequenzen, wenn ihre Beziehungen sichtbar wurden. Welche Vorteile konnte gesellschaftliche Unsichtbarkeit mit sich bringen? Und warum sind frauenliebende Frauen im Alter bis heute kaum sichtbar?
FA: In jedem der vier Projekte wird also Raum mit der Kategorie «Geschlecht» respektive «Frauen» verknüpft. Es wird danach gefragt, wer Zugang erhielt, wie Frauen sich in Räume einbrachten, diese gestalteten oder schufen und wie es sich mit der gesellschaftlichen Sichtbarkeit der Räume verhielt. Damit zusammen hängt auch die Frage, wie sich spezifische Räume auf einzelne Frauen oder auf Kollektive auswirkten. Die untersuchten Räume können dabei materiell – wie bei mir das Bundeshaus – oder auch immateriell sein.
Was brauchte es, um Räume für Frauen zu etablieren?
FA: In meinem Untersuchungsfeld, also dem Feld der Politik, brauchte es vor allem der Wille, Räume für Frauen zu öffnen. Dieser Wille war lange Zeit weder in der institutionalisierten Politik noch bei der Mehrheit der damals ausschliesslich männlichen Stimmbevölkerung vorhanden. Dafür, dass das Bundeshaus auch zum Raum für Frauen wurde, war vor allem das individuelle und kollektive Engagement von Frauen und der Frauenbewegung nötig.
CR: In meinem Fall ist vieles anders. Die meisten Frauen, die ich interviewe, identifizieren sich nicht als lesbisch und konnten so auch keine lesbischen Räume schaffen. Ihnen standen dafür etablierte Frauenbildungsorte oder Frauenberufe wie Krankenschwester oder Lehrerin als Orte der Begegnung zur Verfügung. Es gab aber auch Ausnahmen wie eine St. Gallerin, die in Zürich Ende der 1960er-Jahre einen Tanzabend für Frauen organisierte. Obwohl wir heute eine viel grössere Sichtbarkeit für queere Liebe haben, gibt es für die älteste Generation immer noch keinen Raum.
Worin liegt der gesellschaftliche Wert der Forschung?
CR: Meine Forschung trägt im Besonderen dazu bei, das Leben von Frauen aus einer anderen Perspektive zu erzählen. Zu zeigen, welche Handlungsräume lesbisch liebende Frauen hatten. Und wo sie gewaltvoll in Ehen gezwungen oder an den Rand der Verzweiflung gedrängt wurden. Ich zeige auf, dass es auch in den bürgerlichen 1950er-Jahren Frauen gab, die ausserhalb einer heteronormativen Idee lebten. Und warum diese Leben verschwiegen wurden.
Meine Forschung trägt im Besonderen dazu bei, das Leben von Frauen aus einer anderen Perspektive zu erzählen
Corinne Rufli
Wir wollen die gängigen Narrative hinterfragen und auch die Geschichten von den Frauen selbst hören. Meine Forschung gibt zudem eine neue Sicht aufs Alter. Für das Verständnis der Gesellschaft aus einer historischen, aber auch aus einer gegenwärtigen Perspektive ist die Forschung also absolut relevant.
FA: Bezüglich Relevanz möchte ich vier Punkte hervorheben: Einerseits untersuche ich mit der institutionalisierten Politik ein hochrelevantes Feld, werden dort doch wichtige politische Anliegen verhandelt, Entscheide von grosser gesellschaftlicher Reichweite gefällt und dadurch zukünftige Entwicklungen gestaltet. Andererseits die Frage, wer sich wie an den politischen Prozessen beteiligen kann von grundlegender Bedeutung. Frauen waren in der Schweiz bekanntlich ausserordentlich lange von den politischen Rechten ausgeschlossen. Ob und wie sie sich nach Annahme des Frauenstimmrechts auf höchster politischer Ebene einbrachten, ist eine elementare gesellschaftspolitische und demokratietheoretische Frage. Drittens ist die Forschung wichtig, weil sie ein Thema aufgreift, das geschichts-, politik- und geschlechterwissenschaftlich, aber auch im Alltagswissen der Bevölkerung wenig präsent ist. Schliesslich ist bis heute wenig bekannt von den ersten und frühen Bundespolitikerinnen. Die Forschung ist auch darum relevant, weil sie die Stimmen der Bundeshaus-Pionierinnen, ihre Erinnerungen und Erfahrungen festhält und vor dem Vergessen bewahrt.
Das Projekt ist nun im letzten Jahr. Welche Erkenntnisse habt ihr gewonnen?
CR: Zentral ist für mich die Erkenntnis, wie unterschiedlich lesbische Lebensformen im Alter sein können und wie divers lesbisches Begehren gelebt wird. Die meisten der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, leben ein Leben ausserhalb von dem, was gesellschaftlich als lesbische Beziehung angesehen wird. Viele Frauen gingen Ehen ein – aus Mangel an sichtbaren Alternativen. Vor, in, neben oder nach der Ehe lebten sie Frauenbeziehungen. Ehen sind also gar nicht so heterosexuell, wie wir meinen.
FA: Die Forschung liefert vielfältige Erkenntnisse dazu, wie die ursprünglich von und für Männer geschaffenen Normen und Regeln sowie Strukturen und Konventionen der Bundespolitik sich auf Frauen auswirkten, die ab 1971 als neue politische Akteurinnen in Erscheinung traten. Ausserdem zeigt die Forschung auf, wie unterschiedlich Politikerinnen mit der vorgefundenen Beschaffenheit des politischen Feldes umgingen, welche Strategien der Einflussnahme sie sich im Politalltag zurechtlegten, welche bestehenden Regeln sie brachen oder wie sie ihren Handlungsspielraum nutzten.
Zum Beispiel?
FA: Beispielsweise kann in den Protokollen nachgelesen werden, dass im Nationalrat «Heiterkeit» ausbrach, als die ersten Parlamentarierinnen ans Redepult traten. Einige Ratskollegen machten «Witze» zu den Politikerinnen oder zu dem, was sie sagten, und lösten damit allgemeines Gelächter aus. Daraufhin kam es teilweise zu einer Art Solidarisierung zwischen den Frauen. Sie stützten sich gegenseitig in ihren Voten und liessen sich nicht mundtot machen. Solche parteiübergreifende Unterstützung und auch weitergehende Zusammenarbeit sahen ihre Fraktionskollegen nicht gerne.
Wie könnte es weitergehen mit dem Projekt?
FA: Wir haben mit unserer Forschung einen weiteren Teil zur neusten Geschichte der Schweiz und zur Frauengeschichte beigetragen. Zu meinem Forschungsfeld existieren jedoch noch immer kaum Untersuchungen. Im internationalen Vergleich ist die hiesige Forschung zu Frauen in der Politik mehr als bescheiden. Dabei handelt es sich um eine gesamtgesellschaftlich und wissenschaftlich relevante Forschung, die unbedingt weiterer Finanzierung bedarf.
Im internationalen Vergleich ist die hiesige Forschung zu Frauen in der Politik mehr als bescheiden.
Fabienne Amlinger
CR: Es braucht die Forschung auch, um politisch und gesellschaftlich eine Veränderung herbeizuführen. Wir liefern Fakten, worauf sich politische Akteur:innen beziehen können. Wir arbeiten sehr breit, was also eine gute Basis ist, um gesellschaftliche Transformationen einerseits aufzuzeigen und andererseits auch anzukurbeln.
Der Austausch mit Fabienne Amlinger und Corinne Rufli hat mir klargemacht, wie wichtig die Arbeit ist, die das Projektteam leistet. Bereits der Einblick in zwei der vier Teilprojekte macht darauf aufmerksam, wie viel die Historikerinnen bereits herausgefunden haben. Beide zeigen, dass die gesellschaftlichen Strukturen auf die männliche Bevölkerung ausgerichtet waren, was heute noch nachwirkt. Die Forschung zur Schweizer Frauengeschichte muss also unbedingt weitergeführt werden, um die gesellschaftliche Sensibilität dafür auszubauen.
Dr. Fabienne Amlinger (links) ist Dozentin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG). Im Rahmen des vorgestellten Projekts arbeitet sie an einem Essay-Band zu den frühen Politikerinnen im Bundeshaus mit dem Arbeitstitel «Unerhörtes aus dem Bundeshaus».
lic. phil. Corinne Rufli (rechts) ist Doktorandin am IZFG und forscht zur Lesbengeschichte der Schweiz. Der Arbeitstitel ihrer Dissertation lautet: «Es gab mich nicht. Handlungsräume frauenliebender Frauen von der Nachkriegszeit bis zur Lesbenbewegung der 1970er-Jahre in der Schweiz.» Rufli ist Autorin u.a. von «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen» (2015).
EIN GEMEINSAMER RAUM – UNERZÄHLTE SCHWEIZER FRAUENGESCHICHTE(N) ist ein Forschungsprojekt, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert wird. Es untersucht den Zugang von Frauen zu historisch männlich besetzten Räumen und die Schaffung eigener Räume für Frauen in der jüngeren Schweizer Geschichte. Es handelt sich dabei um ein interdisziplinäres Projekt, das mithilfe unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden und theoretischer Überlegungen aus Kultur- und Geschichtswissenschaften sowie den Gender Studies, einen neuen Blick auf die Schweizer Frauengeschichte wirft.
Das Projekt ist am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung (IZFG) angesiedelt. Das Projektteam besteht aus den folgenden Personen:
Die Projektleitung hat Prof. Patricia Purtschert, Co-Leiterin des IZFG. Alle vier Forscherinnen arbeiten zu ihrem eigenen Teilprojekt.