Genderunterschiede in Vorlieben und Fähigkeiten können nur unzureichend erklären, warum Ingenieurinnen und Primarlehrer so selten bleiben. Ein neuer Ansatz untersucht deshalb, inwieweit Vermutungen darüber, ob ein Beruf zu einem passt oder nicht, die anhaltende Gendersegregation erklären können.
Benita Combet
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Erwachsen werden heisst entscheiden: Was ist mein Berufswunsch, für welche Lehrstelle bewerbe ich mich, für welches Studienfach schreibe ich mich ein? Interessanterweise existieren bei der Berufswahl immer noch markante Geschlechterunterschiede, während sich diese in vielen anderen Bereichen – etwa beim Lohn – massiv verringert haben. So gingen im Jahr 2020 von 100 Masterabschlusszeugnissen im Bereich Maschinen- und Elektroingenieurwesen 82 an Männer und nur gerade 18 an Frauen.
Warum also wählen Frauen nicht häufiger Karrieren in Ingenieur- und IT-Berufen, obwohl die Nachfrage nach Arbeitskräften und die Gehälter hoch sind? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, zu verstehen, wie Berufswahlentscheidungen zustande kommen: Einerseits machen junge Menschen dabei einen Abgleich zwischen ihren persönlichen Vorlieben und ihren Fähigkeiten, wobei sie letztere nicht unbedingt akkurat einschätzen. Andererseits machen sie sich bestimmte Vorstellungen über einen Beruf.
Bisherige Forschung hat hauptsächlich untersucht, welche Rolle geschlechtsspezifische Unterschiede in Vorlieben und Fähigkeiten spielen. Oft wurde argumentiert, dass die stärkere Vorliebe der Männer für Einkommen und Karriere und der Wunsch der Frauen nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie diese Unterschiede in der Berufswahl erklären können. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2000 zeigt jedoch, dass diese Unterschiede in den Vorlieben massiv abgenommen haben – unter anderem auch deswegen, weil sich die Rolle der Frau in der Gesellschaft gewandelt und sich allgemein die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert hat.
Unsere Vorstellungen von Berufen beruhen häufig kaum auf Fakten, sondern eher auf klischeehaften Darstellungen in Medien.
Benita Combet
Eine andere Erklärung ist, dass Frauen den Männern in mathematischen Fähigkeiten unterlegen seien. Mehrere Metastudien zeigen jedoch, dass es im Durchschnitt kaum geschlechtsspezifische Unterschiede gibt. Ausserdem variiert die Zahl der aussergewöhnlich mathematisch talentierten Personen je nach kulturellem Kontext und kann sich innerhalb kürzester Zeit rapide ändern. Ebenso zeigen Forschungsresultate, dass Schülerinnen zwar ähnlich gute Mathematiknoten wie ihre Mitschüler haben, sie aber ihre Fähigkeiten oft unterschätzen, weil Stereotypen mathematische und analytische Fähigkeiten eher Männern zuschreiben. Als Konsequenz davon beschäftigen sich Schülerinnen im Allgemeinen weniger mit fortgeschrittener Mathematik, Programmieren und ähnlichen Themen, obwohl ihnen dies einen ersten Einblick in MINT-Berufe geben könnte.
Was hält nun mathematisch begabte und interessierte Frauen von der Wahl eines MINT-Berufs ab? Neuere Forschung deutet darauf hin, dass auch Vorstellungen davon, ob ein Beruf zu einem passt oder nicht und welches Bild man von seinen potenziell zukünftigen Arbeitskollegen und -kolleginnen hat, eine Rolle spielen. Jedoch beruhen unsere Vorstellungen von Berufen häufig kaum auf Fakten, sondern eher auf klischeehaften Darstellungen in Medien. Ein klassisches Beispiel ist die TV-Serie «The Big Bang Theory», in der die Wissenschaftlerinnen und Ingenieure als absolute Nerds mit geringer sozialer Kompetenz und wenig populären Hobbys wie Comics, Science-Fiction und Rollenspielen, dafür umso grösserer intellektueller Brillanz dargestellt werden.
Frauen, die sich nicht mit dem Nerdstereotyp identifizieren können, kann dies verunsichern: Passe ich in ein solches Umfeld, will ich auch so werden? Einerseits werden Frauen stereotypisch mit Eigenschaften wie Fürsorglichkeit, Fleiss (aber nicht unbedingt Intelligenz) und sozialer Kompetenz assoziiert – das genaue Gegenteil der Nerds. Andererseits existieren hartnäckige, aber inkorrekte Vorstellungen über die Arbeit in MINT-Berufen, zum Beispiel dass man kaum mit anderen Personen zusammenarbeitet, dass die Arbeit wenig kreativ ist und dass die Ergebnisse der Arbeit keinen direkten Nutzen für die Gesellschaft haben.
Zusammenfassend zeigt diese neue Forschung, dass die (selbst eingeschätzte) Passung mit der beruflichen Kultur ein nicht zu vernachlässigender Aspekt in der Berufswahl ist (vorausgesetzt, dass die notwendigen Fähigkeiten und Interessen vorhanden sind).
Was also tun, damit junge Menschen sich nicht von falschen Vorstellungen leiten lassen bei ihrer Berufswahl? Wichtig ist sicher, akkurate Informationen zur Verfügung zu stellen und Einblicke in die reale Berufs- und Studienwelt zu ermöglichen. So könnten etwa bestehende Informationskampagnen der Universitäten und ETHs verstärkt in den Schulunterricht integriert werden, um das klischeehafte Bild des nerdigen Ingenieurs, der isoliert an einem gesellschaftlich irrelevanten Nischenthema arbeitet, zu durchbrechen.
ist SNF-Ambizione-Empfängerin und arbeitet am Soziologischen Institut der Universität Zürich, wo sie untersucht, inwiefern Geschlecht und soziale Herkunft Bildungs- und Genderungleichheit kreieren. Studiert und doktoriert hat sie an der Universität Bern. Sie ist Mitglied im Komitee «Bildung, Fachkräfte und Diversity» von digitalswitzerland.
Bild: zvg